Im Rahmen eines Festaktes am 20. September 1984 im Bahnhof Dalaas anläßlich des hundertjährigen Bestehens der Arlbergbahn erläuterte Hans Sperandio in einer Festrede die Auswirkungen des Bahnbaus sowie des Bahnbetriebs auf die geschichtliche Entwicklung des Klostertals:
Sehr geschätzte festliche Gemeinde!
Kaiser Franz Josef I würde staunen, wenn er so wie vor 100 Jahren heute wieder da vorbeifahren und sehen könnte, wieviele Leute da beisammen sind, um dieses Jubiläum zu feiern. 100 Jahre sind natürlich eine lange Zeit, wenn ich die Kinder anschaue der ersten Klasse Volksschule, dann ist es etwa sechzehn Mal so viel wie sie alt sind, und die das erste Jahr in die Hauptschule gehen, ist es etwa das Zehnfache ihres Alters.
Ich glaube, wir sollten ein bißchen in diese 100 Jahre hinein- und zurückleuchten und uns einfach ein paar Dinge miteinander überlegen. Von diesen Schülern, die da beisammen sind, waren die Ur-Urgroßeltern damals beim Bahnbau Erwachsene und die Urgroßeltern waren etwa so alt, wie die Schüler, die jetzt da auf diesem Platz beieinanderstehen.
Als die Arlbergbahn 50 Jahre alt geworden war, schrieb der damalige Landeshauptmann Dr. Ender, der spätere Bundeskanzler: „Jeder Vorarlberger hat in irgendeiner Weise direkte oder indirekte Beziehungen zu dieser Arlbergbahn, und man könne sich überhaupt nicht vorstellen in Mitteleuropa, daß sie nicht besteht.“
Und als sie 75 Jahre alt geworden war, hat der damalige Landeshauptmann Ulrich Ilg in einem Festartikel geschrieben: „Sie ist nicht wegzudenken zwischen Vorarlberg und Wien. Und Vorarlberg verdankt einen großen Teil seines wirtschaftlichen Aufstieges dieser 75 Jahre alt gewordenen Arlbergbahn.“
Und so sind wir alle heute Gäste dieser Arlbergbahn und der Menschen, die für sie Verantwortung tragen. Und wir alle freuen uns im Grunde genommen, denn ein Jubiläum dieser Art ist Anlaß zur Freude.
Ich habe mir gedacht, wie es wohl damals gewesen sein mag, als man mit dem Bau begonnen hat, ob damals die Freude in diesem Tal auch so ungeteilt gewesen sei. Damals, und das ist vor allem für die Schüler wichtig zu wissen, gab es ja nur die eine Karrenstraße unten im Tal durch die Dörfer. Die war schlecht, mit Pferdefuhrwerken hat man die Frachten und die Leute durch das Tal befördert, und das ging langsam. Und die Postkutsche, die wir heute so glorifizieren, war ein höchst unbequemes Möbelstück.
Wir müssen bei diesem Anlaß sicher auch jenes Mannes gedenken, der eine ganz starke Triebfeder war zum Bau dieses Werkes – der damalige Präsident der Vorarlberger Handelskammer, der Industrielle Karl Ganahl.
Die Industriellen Vorarlbergs Hämmerle, Fussenegger, Rhomberg, Ganahl haben ja ein besonderes Interesse gehabt, für die Erzeugnisse ihrer Fabriken den Markt in Innerösterreich, in Ungarn und am Balkan, das damals alles zusammen zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehört hat, zu bekommen, und daher haben sie so tribuliert, und es ist vielleicht auch interessant: eine der ersten Planungen sah ja vor, daß man mit der Bahn auf den Schienen bis etwa Klösterle fährt, etwas weiter hinauf noch und dann mit einer Zahnradbahn bis Stuben, dann kommt der Tunnel, dann mit der Zahnradbahn hinunter in Richtung St. Jakob und dann wieder auf den Schienen weiter. Stellen Sie sich vor, man hätte diesen Plan verwirklicht!
Es waren übrigens nicht nur die Vorarlberger Industriellen, sondern mitgemischt im Vorfeld, diese Bahn zu bauen, haben auch die Engländer. Es hat bedeutende englische Industrielle gegeben, die vorwiegend ihre Geschäfte mit Ägypten betrieben und die Baumwolle und die Post, die zu befördern war von Ägypten nach England, mußte sehr umständlich befördert werden, und sie hätten besonderen Wert darauf gelegt, eine direkte oder möglichst kurze Bahn- und Postverbindung vom Hafen von Triest bis hinüber nach Calais und dann nach Dover zu bekommen. Also auch die Engländer haben ihr Interesse damals schon bekundet.
Die Ur-Urgroßeltern, die damals Erwachsene waren, und die Urgroßeltern unserer Schüler, die damals Schüler waren, waren arme, wirklich arme Berg- und Kleinbauern. Im Sommer konnten sie vielleicht noch ein bißchen etwas dazuverdienen, wenn sie als Alppersonal irgendwo untergekommen sind und ein wenig auch bei der Straßenerhaltung.
Im Winter saßen sie arbeitslos daheim, die Kinder mußten zum Großteil, wenn sie zehn, elf Jahre alt waren, Sommer für Sommer von Josefi (19. März) bis Martini (11. November) ins Schwabenland (ein Teil Baden-Württembergs und Bayerns), um als Hirtenbuben, Kindermädchen, Knechte auf den Äckern und Feldern zu arbeiten.
Die Frauen, die gingen im Herbst hinaus, zum Hopfenbrocken und zum Ähreneinsammeln, und haben dann auf ihren Handwagen das Korn hereingezogen, das auf den Feldern der Reichen liegengeblieben war. Und die Männer waren zum Teil als Gipser und Maurer während des Sommers außerhalb Landes bis im Elsaß. Ich habe selbst noch solche Leute in Dalaas kennengelernt.
Und dann gab es natürlich Handwerker, die vom Verkehr auf der Straße gelebt haben. Hufschmiede, Wagner und Sattler, Leute, die Vorspann mit ihren Pferden geleistet haben, Bauern, die ihr Heu für die Pferde verkaufen konnten. Die also haben recht und schlecht – und ich meine vor allem recht schlecht – davon gelebt.
Jetzt könnte man glauben, wenn jemand auf die Idee kommt, da eine Eisenbahn durchzubauen, da müßte die Bevölkerung des ganzen Klostertales vor Freude einen Kopfstand machen. Das war aber nicht so. Das meinen bloß wir im Nachhinein. Denn, wenn man genauer durchliest, was im Protokoll steht, wie man die Trasse festgelegt hat, stößt man auf ganz interessante Dinge.
Da haben die Leute z.B. zwischen Klösterle und Braz gesagt, wenn man die Eisenbahn da hoch oben quer durch das Gelände legt, dann werden uns die Heuzüge und die Holzriese verbaut. Wer wird uns Neue bauen und wer zahlt denn das? Da gab es 40 Wasserleitungen, die die Leute sich selbst von den Quellen heruntergebaut haben, die waren alle auch zum Vergessen. Wer baut uns Neue und wer zahlt denn das? 95 Wege sind verloren gegangen, sind durchschnitten worden. Wer baut uns denn Neue und wer zahlt uns das?
Und ein Zweites: Sehr bald hat sich herumgesprochen, nach der Begehung der Trasse, daß die Häuser und Ställe, die unmittelbar in Bahnnähe stehen und mit Schindeln oder Brettern gedeckt sind, daß die hart bedacht werden müssen – wegen der Feuergefahr – denn man fuhr ja damals noch, das wissen alle, mit Dampfloks. 40 Häuser und Ställe mußten entweder abgebrochen, verlegt oder mit harter Bedachung ausgestattet werden, zum Teil auch verputzt, und die Leute haben zu Recht gesagt: „Ja, wer zahlt uns denn das? Das sind Dinge, die wir uns gar nicht leisten können.“
Und ein Drittes: Das war vielleicht das Fürchterlichste für die Leute hier. Da kamen nämlich die Italiener angereist zu Tausenden und haben hier Arbeit gefunden. Diese komischen Leute, die etwa damals die gleiche Rolle gespielt haben bei uns, in unserer Gesellschaft, wie heute die Türken. Man soll das nicht vergessen. Und aus der Zeit her haben wir im Klostertal solche Namen wie Nikolussi, Wanzo, Micheli, Lenzi, Tomio, Alfare, Soraperra, Luzian.
Die Gemeinden haben gestöhnt, was da an Lasten auf sie zukommt, wenn man bedenkt, daß die Gemeinde Klösterle durch Jahre hindurch rund 20 bis 25 Schüler hatte. Jetzt schnellt im zweiten Jahr des Bahnbaues die Schülerzahl auf 130 hinauf, und im Jahr darauf auf 140. Und sie ist nachher nie mehr unter 50 abgesunken. Kein Wunder, daß es jetzt eine Oberklasse gegeben hat – mit 85 bis 100 Kindern in einem Klassenzimmer. Die Gemeinden haben gestöhnt unter den Lasten, die ihnen deshalb erwachsen sind.
Die Bevölkerungszahl ist in dieser Zeit unglaublich in die Höhe geschnellt, denn allein in Langen haben etwa 3500 Arbeiter gehaust. Ich sage ausdrücklich „gehaust“. Das war etwa das Dreifache der gesamten Bevölkerung des Klostertales. Die ist allein als Arbeiter in Langen daheim gewesen.
Und die Handwerker, die Schmiede, die Sattler, Schlosser und Wagner haben sich ebenfalls aufgeregt, denn sie haben genau gewußt, wenn der Bahnverkehr kommt: „Dann können wir unseren Laden zusperren.“
Und die großen Ställe, wie die „Sonne“ in Bings oder bei der „Post“ in Dalaas oder bei der „Traube“ in Braz oder in Klösterle, die man gebaut hat, um die Pferde einzustellen und die Fuhren über Nacht unter Dach zu tun, sind leer geworden. Die Bauern haben ihr Heu nicht mehr günstig verkaufen können an die Frächter, die Pferde gehabt haben.
Und die Dalaaser haben damals gesagt: „Wenn man da heroben einen Bahnhof baut, dann müssen wir eine Straße dazu haben.“ Und die Bahnverwaltung oder die Männer der Verhandlungen haben gesagt: „Natürlich, baut sie doch!“ – „Na, wir nicht, wenn ihr den Bahnhof dort hinauf baut, dann baut auch bitte die Straße!“ Da haben die Brazer gesagt: „Das ist schade ums Geld, denn wenn die Dalaaser schon Frachten beziehen, dann kann man sie ja in Braz abladen und mit den Pferden hereinführen.“
Und die Leute droben im Obermarias (Ortsteil von Dalaas) oder Obermason (Ortsteil von Dalaas) haben heftig opponiert, das waren etwa 20 bewohnte Häuser mit rund 100 Leuten: „Uns schneidet man förmlich vom Dorf ab.“ Das hat sich erst gelegt, als man ihnen gesagt hat: „Ihr bekommt eine Zufahrt.“ Das ist nämlich die Brücke, die da draußen steht, westlich des Bahnhofs.
Anton Hillbrand und seine Nachbarn in Innerbraz, dort wo der hohe Damm (Der Brazer Bogen erstreckt sich von km 128,3 bis km 128,9.) geschüttet ist, bevor man in den Bahnhof Braz hinausfährt, haben geschrieben: „Wenn man diesen Bahndamm so hoch baut, dann scheint weniger Sonne auf unser Feld. Weniger Sonne ist weniger Gras, weniger Gras ist weniger Heu, weniger Heu ist weniger Verdienst, also Geld her dafür!“
Und drunten im Untermarias (Ortsteil von Dalaas) hat ein Ignaz Stemer gewohnt, der hat gesagt: „Die sind völlig verrückt, man kann doch nicht den Muttentobel bolzengerade da hinunterfassen und hinunterrichten, denn, wenn es einmal zu Vermurungen kommt, dann springt das ganze Geröll über den Damm hinaus, und wir haben es in den Feldern.“ Ignaz Stemer hat übrigens gar nicht so unrecht gehabt – das ist dann nämlich etliche Male passiert, zum letzten Mal, wenn ich mich recht erinnere, 1953.
Die Dalaaser Gemeinde und die Gemeinde Klösterle haben ausdrücklich erklärt: „Wenn es irgendwo zwischen Langen und Dalaas – Wald zu Rutschungen kommt, während des Baues oder beim Betrieb der Bahn, dann zahlen wir keinen Groschen, dann soll gefälligst die Bahn bezahlen.“
Wenn man das Protokoll durchliest, dann staunt man, welche Nerven die Verhandler seitens der Bahnverwaltung gehabt haben müssen. Nun hat aber jede Medaille zwei Seiten. Es gibt auch eine Kehrseite und die möchte ich auch noch zeigen.
Denn die Klostertaler, die so die Haare aufgestellt haben bei den Verhandlungen, die haben bald gemerkt, daß das ein tolles Geschäft sein könnte. Ein paar Beispiele dafür: Ich habe mir errechnet, daß aufgrund der Grundablösen, der Schadensgutmachung auf den Feldern beim Bau durch Sachbeschädigungen, die man ersetzen hat müssen, usw. rund eine Million Gulden in dieses Tal hereingekommen ist. Umgerechnet, ich glaube es ist vorsichtig geschätzt, etwa 100 Millionen Schilling heutiger Währung.
Dann haben die Leute ihre Privathäuser und zum Teil auch die Stallungen bis unters Dach hinauf vermieten können, weil die Arbeiter Unterkünfte gebraucht haben. Und die Gastwirte haben sich ebenso gefreut. Allein in Braz gab es während des Baues 40, in Worten vierzig, Schenken. In Dalaas und Klösterle müssen sie etwas mäßiger gewesen sein oder die Gasthäuser waren größer. Da gab es jetzt 12 und von Langen schreibt der damalige Pfarrer, das sei überhaupt ein einziges Gasthaus gewesen.
Die Männer, sowohl die Erwachsenen wie die jungen Burschen, haben alle beim Bahnbau Arbeit und Lohn bekommen. Die Gemeinden haben unglaublich viel Steuern eingenommen, das ist gar nicht schlecht, das hat sich auch niedergeschlagen.
Nach der Auffassung der damaligen Zeit durchaus verständlich haben die Brazer damals, so wie die Dalaaser, vom ersparten Geld der Steuern, ihre Kirchen ausmalen können. Und dem Klostner Pfarrer hat man ausdrücklich in der Zeitung vorgeworfen, daß er überhaupt nichts tue, jetzt, wo man doch so viel Geld hätte. Denn die Gemeinde Klösterle hat nach dem Bahnbau ein Reinvermögen von nahezu 200.000,– Gulden gehabt. Nicht schlecht, sie war tatsächlich steinreich, vermutlich, Herr Bürgermeister Brunner, wie seither nie mehr.
Und in Langen und in Braz hat man eigene Friedhöfe anlegen müssen, Notfriedhöfe, der Brazer lag in der Nähe dort, wo heute das Ausgleichsbecken vom Kavernenkraftwerk Braz ist.
Wir wissen auch, wieviele Wege, Güterwege und Zufahrten zu Gehöften, die abgelegen waren, allein in Dalaas und Braz gebaut worden sind. Die Innerbrazer haben zu der Zeit ihr altes Schulhaus gebaut, das steht ja heute noch. Die Dalaaser haben ihr Versorgungs- oder Armenhaus gebaut, das dann 1915 abgebrannt ist. Man sieht schon, da ist einiges ins Tal hereingekommen.
Aber das berühmteste Kind der Arlbergbahn ist und bleibt Langen. Langen ist tatsächlich ein Dorf, an dessen Gesicht man die Geschichte und den Einfluß der Bahn ablesen kann. Zunächst einmal, wenn man von Klösterle hinauffährt, beim Durchlaß (An dieser Stelle befindet sich heute ein Straßentunnel.) unter der Bahn durch, dann steht man plötzlich vor einer Hochebene, das kennen alle, dieses Bild.
Das ist das Tunnelmaterial aus dem Arlberg, das ausgebrochen worden ist, und auf diesem neuen Gelände sind zunächst die Baracken gestanden, in denen 3.500 Menschen gewohnt haben. Männer, die als Mineure usw. im Berg gearbeitet haben. Eine Barackenstadt für 3.500 Leute. Da hat es Wasserleitungen und Wege gebraucht, die man angelegt hat.
Von Langen gingen in den Jahren vorher immer so vier bis acht Kinder in die Schule nach Klösterle, denn Langen hatte ja keine Schule. Und von da an sind allein von Langen herunter jedes Jahr 50 bis 60 Kinder gekommen. Weil es aber beschwerlich war, haben sie über Mittag in Klösterle unten bleiben müssen. Die Gemeinde Klösterle hat gesagt: Wir sind nicht schuld, daß da droben in Langen so viele Schüler sind, da muß also die Bahn etwas tun.
Die Bahn mußte damals für die Kinder das Geld aufbringen, damit sie in Klösterle ein warmes Mittagessen bekommen haben. Bei genauerem Hinsehen und bei gleichbleibender Logik könnte man sagen: Der erste Versuch von Tagesheim- oder Ganztagsschule.
Dann sind später nach dem Bahnbau neben den sechs bis sieben Bauernhäusern, die es früher droben in Langen gegeben hat, und anstelle der Baracken die Personalhäuser gebaut worden, die eine bewegte – auch menschlich bewegte – Geschichte haben. Und es sind Privathäuser entstanden, denn da gab es ja sichere Arbeit im Berg, am Bahnhof und über der Bahn.
Dann hat 1928 Langen endlich eine Schule und 1930 eine Kirche bekommen, schließlich auch ein Postamt, und jetzt ist es eine internationale Drehscheibe des Verkehrs, und die Zürser, die Lecher und die von St. Christoph könnten sich das gar nicht vorstellen, wenn in Langen nicht eine Schnellzugsstation wäre. Das kleinste Nest als einzige Schnellzugstation im Klostertal, man müßte fast als Dalaaser und Brazer ein wenig neidig sein.
So hat sich in 60 Jahren das Gesicht dieses einen Dorfes gewandelt. Aber auch das Gesicht dieses Tales hat sich durch den Bahnbau ganz grundlegend geändert. Denn anstelle der Schmieden und Wagnereien, der Saisonarbeiter, der Schwabenkinder und der Hopfenbrockerinnen hat es jetzt feste Arbeitsplätze gegeben. Im Oberbau, also auf der Strecke, bei Lehnenpartien und im Fahrdienst.
Natürlich waren die Eisenbahner nie reiche Leute. Ich weiß noch einen Spruch, den man vor 30 Jahren in Dalaas gekannt hat, wenn die Eisenbahner gesagt haben, früher sei es so gewesen in Dalaas: „Achtzehn Mal Riebel und dann war Sonntag.“ Wir tun uns leicht, darüber zu lachen, weil wir nur an den satten und vollen Gestellen der Supermärkte vorbeimarschieren müssen, und uns fragen, was fehlt uns heute, und das nehmen wir dann mit. Achtzehn Mal Riebel und dann war Sonntag!
Ein ganz entscheidender Eingriff war natürlich das, was sich im Laufe der Geschichte durch die Bahn getan hat. Ich habe da ein Beispiel gefunden: Als 1890 über Langen droben Verbauungen stattgefunden haben, da haben die Männer Pflöcke hinaufgetragen. Wir haben ja gestern in der Sendung (Am 19.09.1984 wurde im Hauptabendprogramm von ORF1 die Dokumentation „Die Arlbergbahn: 15.000 Schwellen durch den Berg; 100 Jahre und kein bißchen rostig“ ausgestrahlt.) etwas gehört von Zement und Schotter. Sie haben pro Pflock 12 Kreuzer bekommen, 12 Stück hat ein guter Mann gepackt, und so ist er dann auf einen Tagesverdienst von etwa 2 Gulden gekommen.
Das war vergleichbar der Spitzenlohn der Sticker damals in Lustenau, in Hohenems und in Götzis. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß aber das hart verdientes Guldenwerk war. Und jemand hat mir gesagt, sein Großvater hätte ihm noch erzählt, damals in Dalaas, das sei sündhaft viel Geld gewesen. Daß es sündhaft schwere Arbeit war, davon hat man nicht geredet.
In der Schneeräumung haben die Leute Jahr für Jahr ihren festen Platz gehabt. Das wissen die Älteren alle noch. In der Arbeitslosenzeit – etwa so 1930 bis 1935, 1936, 1938 – waren sie zu Tode froh, wenn es solche Winter gehabt hat, wie heuer 1983/1984 einer war. Denn da sind sie als Schneeschaufler zu Hunderten da heraufgekommen und haben sich ein paar Groschen verdienen können.
Ganz massiv natürlich war es, als das Spullerseekraftwerk gebaut worden ist. Auch da gab es natürlich den Sturm der einheimischen Bauern wegen der Alpplätze und der Ablöse von den Alpen am Spullersee. Das war zwischen 1921 und 1924. Aber die Gemeinden haben auch nicht schlecht davon gelebt.
Denn das alte Gemeindehaus von Dalaas, das 1915 abgebrannt ist und mit den Steuereinnahmen des Bahnbaues gebaut worden war, konnte jetzt in den Jahren 1924-1925 durch die Steuereinnahmen vom Spullerseekraftwerk wieder aufgebaut werden. Wald hat damals als erstes Dorf in diesem Tal ein neues Kino gehabt. Das ist nicht zu unterschätzen.
Aber was vielleicht besonders wichtig ist, es gab im ganzen Tal bis dahin keinen elektrischen Strom, und so mußte man zum Werksbau über den Kristberg von Schruns her ausholzen, eine provisorische Stromleitung bauen und den Strom nach Wald hineinliefern.
Weil man den Gemeindewald ein Stück weit hat ausholzen müssen, haben die Dalaaser und die Waldner natürlich auch – die gehören ja zusammen, auch wenn sie es manchmal nicht gerne hören – dafür das Recht bekommen, ohne einen Groschen ihren Strom beziehen zu dürfen. Die gute Zeit ist längst vorbei!
Und 1924 in der Heiligen Nacht hat auch in der Pfarrkirche in Dalaas zum ersten Mal elektrisches Licht gebrannt. Die Klostner haben es dann zwei Jahre später nachgemacht, als sie gemerkt haben, wie hell die Dalaaser und Waldner durch die Elektrifizierung inzwischen geworden waren.
Ein Zeugnis, außer den Bauwerken Gemeindehaus und dem Kraftwerk drinnen samt der Hochdruckleitung, ist die große Glocke in Dalaas, die zwar während des Zweiten Weltkrieges abgeliefert werden mußte, aber wieder heil heimgekommen ist. Auf ihr steht – man konnte sie anschaffen um teures Geld im Jahre 1925 aufgrund des guten materiellen Einkommens der Dalaaser – auf ihr steht: „Gott segne das neue Spullerseewerk und den elektrischen Betrieb.“ Das ist also ein Zeugnis, das wir nicht vergessen sollten, gelegentlich, wenn es läutet, daß wir auch Grund zur Dankbarkeit haben.
Dritter massiver Eingriff ins Tal, davon darf ich noch ein bißchen erzählen, war dann der Kavernenkraftwerkbau in Braz draußen. Den habe ich noch ein Stück weit an der Peripherie miterlebt. Das gab auch wieder eine ganze Reihe sicherer Arbeitsplätze, und die Gemeinden haben hohe Einnahmen daraus gewonnen.
Im Vergleich: Damals hat ein Mineur rund 3.000,– Schilling im Monat verdient, während der Gehalt eines jungen Lehrers etwa bei 470,– Schilling lag. Die Dalaaser konnten damals ihr Schul- und Gemeindehaus auf Maschol (Ortsteil von Wald am Arlberg) finanzieren. Und die Bahnhofstraße, die jetzt heraufführt über den Rufen, ist damals ordentlich ausgebaut worden mit dem Sichtmauerwerk, das sie auf der oberen Seite schützt.
Und die Brazer haben damals ihr Gemeinde- und Feuerwehrhaus gebaut. Und nicht nur das, wegen des Kraftwerkbaus gab es enorme Transportbelastungen der Straße, und in dem Zusammenhang ist die erste Umfahrungsstraße in diesem Land gebaut worden, die lang vorher schon trassierte und geplante, nämlich die von Braz. Die Brazer waren also die Ersten.
Und es entstand dort auch eine ÖBB-Siedlung für zehn Familien. Und bitte, keine einzige Wohnung hat ein Brazer bezogen, sondern lauter, ich sag das jetzt einmal so, Zugereiste. Das hat aber auch ganz tief, glaube ich, ins Menschliche hineingegriffen, dieser Zuzug der Steirer und Kärntner. Beim Bahnbau waren es die Italiener, in den vierziger, fünfziger Jahren waren es die Steirer und Kärntner, die hier aufgrund der Bautätigkeit der Bundesbahnen einen Arbeitsplatz gefunden haben.
29 von diesen Kärntnern und Steirern sind alleine in Dalaas hängengeblieben und haben sich hier mit Dalaaserinnen verheiratet. Und 66 Kinder sind aus diesen Ehen hervorgegangen. 22 Familien mit 50 Kindern sind davon dageblieben, und da sind ganz neue Namen aufgetaucht. Ich habe ein paar mir noch schnell notiert: Hrach, Koschatt, Kinegger, Mahlknecht, Fraidl, Schütz, Remta und Temesl, das sind solche neue Namen, die jetzt auftauchen.
Und jetzt haben wir schon die dritte neue Mischung ganz abgesehen von der jahrhundertealten Unterwanderung des Klostertales durch die Tiroler. Das gab dann Anstoß auch zum Privathausbau. Nachweislich bauten Bundesbahnbedienstete und Mineure des Alfenzkraftwerkbaues die ersten anderthalb Dutzend neuer Privathäuser.
Für die Maurer und Zimmerleute, Installateure und Elektriker, Schreiner und Spengler im Tal gab es Arbeit. Diese Bautätigkeit hat seit den notvollen Dreißiger- und Vierzigerjahren den ersten Schub für eine beginnende Erholung der Betriebe bedeutet.
Diese Schaffung von Wohnraum hat mitgewirkt, daß das Klostertal eine ganz andere Entwicklung genommen hat als etwa andere Hochgebirgstäler in Vorarlberg. In dieser Zeit sind ausnahmslos alle Gebirgstäler in der Einwohnerzahl stark abgesunken. Das Klostertal tanzt völlig aus der Reihe.
Wenn man der Sache nachgeht, dann beginnt das Abfangen der Abwanderung genau mit dem Jahr 1881, und dann ist die Bevölkerungszahl nie mehr unter eine gewisse stabilisierende Zahl abgesunken. Das ist ganz merkwürdig und heißt deutlich, daß dieses Tal ganz lebhafte Wiederbelebungs- oder Belebungsimpulse erfahren hat. Denn immerhin bedeutet die Bahn für dieses Tal, daß ein Drittel der Menschen, die in diesem Tal leben, dort unmittelbar von der Bahn und dem Einkommen anhängig sind.
Die Verbauungen, die die Bahn in allen diesen 100 Jahren gemacht hat, von Lawinenzügen und Tobeln haben erst viele zusätzliche sichere Wohnplätze geschaffen: Angefangen von der Blisadona in Langen über die Muttentobelverbauung in Dalaas bis hinaus zum Schanatobel in Braz.
Ich meine, daß das Klostertal zurecht drum nicht in der gleichen wirtschaftlichen Situation ist wie das Laternsertal und das große Walsertal. Ich glaube, das ist Lebensqualität, die in dieses Tal gekommen ist bei allem ambivalenten Verhältnis zwischen Bewohnern und Eisenbahnern, denn es sind ja auch parteipolitisch wichtige andere Akzente in dieses Tal gekommen. Es hat andere, neue als die alteingesessenen Weltanschauungen gegeben, und die Sozialdemokraten, die gerade bei den Bundesbahnbediensteten vor allem ihren zahlenmäßigen Rückhalt gehabt haben, haben eine ganz wesentliche Nuance im Sinn eines Demokratisierungsprozesses mit ins Tal gebracht.
Jetzt habe ich die Kehrseite angeschaut oder mit Ihnen versucht, anzuschauen. Jetzt lassen Sie uns, bevor wir miteinander dann die Messe (Im Anschluß an die Festrede zelebrierten die Herrn Pfarrer Bruno Schneider aus Dalaas und Anton Kegele aus Wald am Arlberg in der Pfarrkirche Dalaas eine Gedenkmesse.) feiern, doch auch an die Dinge denken, die bitter waren in der Geschichte dieser Bahn und der Menschen, die in diesem Tal leben.
Die Eisenbahn über den Arlberg ist erst acht Jahre lang in Betrieb gewesen, da gab es das erste große Unglück, als der Bergsturz von der Blisadona herunter rund eine Million Kubikmeter gebracht hat, ein Haus begraben hat mit zwei Toten, und auch auf der Schattseite drüben tausende von Kubikmetern Holz vernichtet hat. Dann ist anschließend ja ein Tunnel gebaut worden.
Nicht alles ist so tragisch ausgegangen. In den zwanziger Jahren, manche ganz Alte unter uns werden sich wahrscheinlich daran erinnern, ist zwischen Dalaas und Klösterle einmal ein Zugteil abgerissen und ungebremst gegen Dalaas gerast und hat hier – da wo Sie jetzt stehen, da war ja der Bahnhof – ein Stück des Perrons weggerissen. Zum Glück gab es keine Menschenleben zu beklagen.
Ein eher lustiges Ereignis in dieser Unglücksgeschichte, es ist zwar ein Unglück, das war der berühmte Zuckerzug im Jahre 1948, vielleicht können sich manche daran erinnern: Wie ein Teil des Güterzuges sich selbstständig gemacht hat und zwischen Dalaas und Hintergasse entgleist ist. Dort sind die Waggons hinuntergeflogen, und die waren gefüllt mit Zucker. Ein unschätzbar wertvolles Gut damals.
Und die Dalaaser sind zu Dutzenden mit ihren Handkärren hinausgerannt und haben da den Zucker eingeladen und nach Dalaas geschleppt, denn Zucker war damals noch eine streng rationierte Seltenheit! Nun waren aber die mit dem Zucker gar nicht die Schlauen, denn der Zug hatte auch Stahl mit sich geführt, Baustahl, und der war noch rarer. Und die ganz schlauen Dalaaser haben Stahl geholt und den dann verkauft, den konnte man zwar nicht in den Riebel und in den Kaffee tun, aber mit dem Geld, das man damit gewonnen hat, konnte man bei den anderen, die den Zucker geholt haben, einiges davon kaufen und vieles andere auch.
Wenn wir aber auf diesem Platz stehen, können wir es wohl nicht tun, ohne daß wir uns auch daran erinnern, daß da vor 30 Jahren ein großer Teil des Bahnhofes durch die Muttentobellawine weggerissen worden ist, und daß ein eingeschneiter Eilzug von der Lawine über die Bahnböschung geschleudert wurde, und daß insgesamt zehn Menschen damals ihr Leben haben lassen müssen.
Gestern Abend habe ich mit jemandem geredet, der diesen Zug versäumt hat: Die Studenten Binder und Schobel wollten mit dem letzten Zug vor dem Einschneien nach den Weihnachtsferien an die Universität in Innsbruck zurück, sie sind dann hier in Dalaas ums Leben gekommen. Der Dritte hat den Zug versäumt, das war sein ganz entscheidendes Glück.
An dieser Stelle sollten wir auch an den Mann erinnern, der durch so viele Jahre verantwortlich gewesen ist für die Verbauung ober der Bahnlinie, von der dieses Tal insgesamt so viel gewonnen hat, des Bahnmeisters Wilhelm Purtscher. Der ja auch, obwohl er ein großer Kenner der Situation war, mit seiner Frau da ums Leben gekommen ist.
Mir hat der am Abend zuvor noch gesagt: „Wenn i di wär, tät i net do dunna übernachta“ (Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich nicht dort unten übernachten.) – denn ich habe da unten das Zimmer gehabt im ersten Haus links (Es ist anzunehmen, daß Herr Hans Sperandio zum damaligen Zeitpunkt in der Nähe des Bahnhofs gewohnt hat.). Dieses Haus steht noch, aber er hat im Bahnhof sterben müssen.
Er war übrigens der erste Österreicher, der vom Bundespräsidenten mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet worden ist. Dieses Ehrenzeichen hat ihm der damalige Generaldirektor posthum am Grab noch übergeben, denn erst im Jahr vorher ist ja das Ehrenzeichengesetz gemacht worden, und er war der Erste, der es bekommen hat.
Und mancher Bundesbahnbedienstete ist im Dienst dieser Bahn und der Menschen hier ums Leben gekommen. Ich habe selber Zwei davon gekannt. So sollten wir also an die erinnern, die in irgendeiner Weise im Zusammenhang im Dienst oder unter Benützung dieser Einrichtung gestorben sind.
Wir sollten uns aber, glaube ich, auch dankbar an die erinnern, die erstens einmal die Idee gehabt haben, diese Bahn zu bauen, dann an die, die sie geplant haben und an die vielen namenlosen Männer, die sie gebaut haben. Auch an die Italiener, als Sperandio werde ich das wohl sagen sollen! Und an die, die sie 100 Jahre erhalten haben. Und wir sollten dankbar uns daran erinnern, daß Menschen und Tal durch diese Bahn geschützt werden, nicht nur die Bahn, sondern die Menschen selbst.
Und es ist daher, glaube ich, richtig gewesen, daß vor einigen Wochen der Herr Landeshauptmann da in diesem Bahnhof dem Nachfolger des damaligen Bahnmeisters Wilhelm Purtscher, dem Herrn Karl Lueghofer, eine hohe Auszeichnung des Landes verliehen hat. Das ist ein Zeichen von Dankbarkeit, die das Land zu zeigen hat gegenüber denen, die den Menschen in diesem Tal so viele Dienste getan haben.
Wir sollten uns erinnern an die Opfer, die hier gestorben sind. Das glaube ich ist der Sinn, daß wir jetzt miteinander diese Messe feiern, daß wir einfach Danke sagen dafür, daß wir in diesem Tal gut leben können. Und jetzt möchte ich noch etwas wünschen, denn wenn man als Gast kommt, sollte man nicht mit leeren Händen kommen.
Ich hätte ein paar Wünsche: Ich würde mir wünschen, daß Bahn und Tal miteinander weiterhin gut auskommen und gut zurechtkommen, weil sie doch hoffentlich beide wissen, daß sie einander brauchen. Ich habe versucht, das ein bißchen zu erklären. Ich wünsche, daß diese Bahn auch immer wieder Menschen zusammenführt, solche die Heimweh haben oder heim wollen oder die andere aufsuchen wollen. Und daß sie immer die Güter bringt, die wir zum Leben brauchen.
Und den Kindern da, den Schülern, würde ich wünschen, daß sie in Gesundheit jedenfalls das 125-Jahr Jubiläum erleben. Da werden sie so zwischen 30 und 40 sein. Viele werden wahrscheinlich auch das 150-Jahr Jubiläum mitmachen, dann sind sie aber schon zwischen 50 und 60, und vielleicht ist sogar jemand unter euch, der dann das 175-Jahr Jubiläum mitmachen kann – das wäre natürlich ganz toll – und sich dann vielleicht an die 100-Jahr Feier und an den Menschen, der da so lang geredet hat, erinnert.
Und vielleicht kommt euch dann das eben in Erinnerung, daß diese Bahn unglaublich wichtig für euer Daheimsein hier ist. Und jetzt wollen wir also miteinander Danke sagen für das viele Gute, das die Bediensteten der Bahn erlebt haben und anderen getan haben, das die Talbewohner durch die Bahn erlebt haben, und daß die Reisenden in diesem Tal viel Schönes gesehen und erlebt und wichtige Verbindungen gefunden haben.
Auf der großen Glocke steht: „Gott schütze das Spullerseekraftwerk und den elektrischen Betrieb.“ Diesem Wunsch unserer Väter ist nichts hinzuzufügen, es sei denn die Erinnerung, daß auf einer zweiten Glocke steht, daß am 11. Jänner 1954 eine Lawine zehn Menschen hier getötet hat, die Namen dieser zehn Menschen stehen auf der Glocke. Jetzt danke ich ihnen ganz herzlich für ihre riesige Geduld.
(Autor: Sperandio Hans)
Die Anmerkungen in den Klammern stammen von der Redaktion.